Torquemadas Schatten



©2007: Renate Groh

Renate Groh „Torquemadas Schatten“, Collagen und Rohrfederzeichnungen: 2006/7

Diese Serie mit 30 Collagen im kleinen Format 30x42cm entstand im Winter 2006/7 auf Formentera. Es sind Montagen mit Leinwandresten und Fetzen bedruckten Einwickelpapiers für Weihnachtsgebäck. Montagen aus Fundstücken - Material des Alltags, wie häufig bei Renate Groh. Die Collagen sind übermalt mit Pinsel oder Kreidezeichnung. Im Kontrast zur Banalität der Materialien, lautet der Titel der Serie „Torquemadas Schatten“.

Die Künstlerin bezieht sich mit ihren Arbeiten auf den Großinquisitor am Ende der Rückeroberung Spaniens durch die Christen in einer Zeit der religiösen Intoleranz und der Denunzianten. „Torquemadas Schatten“ ist aber auch der Titel eines Romans von Karl Otten, der den faschistischen Putsch 1936 auf der Nachbarinsel Mallorca beschreibt.

Mit diesen Bezügen nennt Renate Groh ihr Thema: Intoleranz und Machtmissbrauch – oder die Gefährlichkeit jeden Absolutheitsanspruchs. Nur scheinbar widersprüchlich wählt die Künstlerin als adäquates Ausdrucksmittel „Bonbonpapier“, ein Synonym für Alltäglichkeit und kleine Lebensfreude. Die Collagen sind - abgesehen vom konkreten Material und Aufdruck – ungegenständlich, ein Verzicht auf eine reine Illustrierung des Themas.

Durch das Konzept, im Titel das Entstehungsdatum zu nennen entsteht ein Tagebuch das ermöglicht, die verschiedenen Stimmungen und Ausdrucksweisen der Autorin „nachzulesen“. In allen Arbeiten ist das Bonbonpapier in unterschiedlich große Fetzen zerrissen, sie sind nicht flächig verklebt, es bilden sich Falten und Runzeln wie menschliche Haut, darübergelegt sind Kreideschraffuren oder Pinselstriche, nicht betont aggressiv, mehr ein Ausstreichen oder Auslöschen. Zerreißen und Übermalen als Akt der Distanzierung oder Korrektur?



©2007: Renate Groh

Trotz des Zerfetzens bleibt die Schriftinformation des Einwickelpapiers erhalten und übernimmt in der Komposition eine wichtige Rolle, wir lesen, daß es sich um ein traditionelles Gebäck zum christlichen Weihnachtsfest (el surtido de navidad) handelt, hergestellt mit Schweineschmalz (manteca de cerdo).

Nun hatte die Inquisition die Beobachtung der Essgewohnheiten benutzt um Andersgläubige, Mauren und Juden zu „entlarven“, mit den bekannten Folgen. Auf der Spurensuche und ihrer Interpretation erkennen wir, daß in Renate Grohs Collagen „Torquemadas Schatten“ viele Hinweise an Vergangenes und Gegenwärtiges enthalten sind - gerade im Alltäglichen und Kleinen - ganz ohne Anklage, weil wir selbst immer beteiligt sind. Man muß aufmerksam sein.

Gleich nach dieser Serie bearbeitet Renate Groh das Thema ein zweites Mal, wieder mit dem Titel „Torquemadas Schatten“. Es sind Rohrfederzeichnungen auf einem „Malgrund“ aus Fotokopien griechisch, lateinischer Bibelausgaben, die von einem Vorbesitzer mit Kommentaren beschrieben wurden.

Die „Originalschrift“, meist als Fließtext verwendet, ist durch Doppeldruck verschwommen oder sie ist auf den Kopf gestellt, vielleicht als eine zusätzliche Verschlüsselung oder der Text scheint als konkrete Information unwichtig, der Hinweis auf die Bibel ist ausreichend. Renate Groh „überschreibt“ diesen Text mit ästhetischen, oft auch aggressiven schriftähnlichen Zeichen, ein und mehrzeilig bis zur völligen Überlagerung des Grundtextes.

Die Spritzer und Tropfen der Rohrfeder zeigen die Raschheit, die Spontanität des Überschreibens – eine rasche Notiz zum Bibelwort, eine Reaktion. Sie erfindet eine Vielzahl von Überschreibungen - die aggressive Zerstörung des Wortes, Geheimzeichen oder Kürzel einer Indizierung. Sie werden Ornament und Arabeske - das Nebeneinander christlicher und islamischer Tradition - zwei Wahrheiten nebeneinander. Die Überschreibungen sind Kommentar, Gegenthese, Verneinung, Protest und Zweifel an nur einer Wahrheit. Eine Warnung vor der Wahrheit mit Absolutheitsanspruch.

Wieland Schmidtke, Dezember 2011